Unbegrenzter Urlaub, grenzenlose Freiheit?
Auf dem Arbeitsmarkt der liberalen USA ist es möglich: Unbegrenzter Urlaub. Einige wenige amerikanische Unternehmen (gesprochen wird von 1-3 %) erlauben ihren Mitarbeitern, so viele freie Tage zu nehmen, wie sie wollen und manche sogar zu arbeiten, wann und wo sie wollen.
Bedingung dafür ist üblicherweise nur, dass die Arbeit nicht hinten bleibt und dass weder Kunden noch Kollegen darunter leiden. Bei manchen ist die Erlaubnis des Arbeitgebers weiterhin notwendig, was de facto einer begrenzten Zahl an Tagen gleichkommen kann, wobei der Arbeitnehmer nicht einmal das Recht auf seine freien Tage einfordern kann, wenn kein Minimum vorgegeben ist. Aber auch in jenen Unternehmen, in denen die Urlaubstage auch praktisch gesehen frei wählbar und unbegrenzt sind, sind die Erfolge des Modells unterschiedlich.
Die Einführung des unbegrenzten Urlaubs führt allgemein nicht, wie man zunächst annehmen könnte, zu leeren Büros. Das Gegenteil ist eher der Fall: Die Produktivität steigt tendenziell. Ob mehr oder weniger Urlaubstage in Anspruch genommen werden, ist schwer zu sagen, da die Unternehmen dies mit der Einführung des unlimitierten Urlaubs häufig nicht mehr dokumentieren. Das ist nämlich einer der Vorteile dieser Praxis: Ein beträchtlicher Verwaltungsaufwand in Form von zusätzlichen Verrechnungsmethoden und teilweise von Genehmigungsverfahren fällt weg. Auf dem Gehaltszettel macht es keinen Unterschied, ob der/die Angestellte im letzten Monat auf den Kanaren war oder im Büro.
Ein Vorteil dieser Methode für die Angestellten soll die zurückgewonnene Freiheit sein, über die Verteilung von Freizeit und Arbeitszeit selbst bestimmen zu können. Die Idee klingt traumhaft: Frei wie ein/e Selbständige/r und abgesichert wie ein/e Angestellte/r. Wenn das wirklich so traumhaft ist, warum sehen sich einige dieser amerikanischen Unternehmen dazu gezwungen, ihre Angestellten zu Zwangsurlaub zu verdonnern? Diese machen anscheinend noch unlieber blau als vorher. Etwa Marketingunternehmen können es aber für wichtig ansehen, dass ihre Mitarbeiter die Akkus zwischendurch aufladen und Inspiration schöpfen. Aber viele von ihnen würden tatsächlich lieber ohne Pause weiterarbeiten. Vielleicht ist alleine das Wissen, sich potenziell ziemlich nach Lust und Laune freinehmen zu können, genug Motivation, um die Angestellten hinter ihrem Schreibtischen zu halten. Vielleicht aber ist die Motivation eine negative: Wenn das Unternehmen nicht daran erinnert, Urlaubstage bitte aufzubrauchen, damit sie nicht am Ende des Jahres ausbezahlt werden müssen, läuft derjenige, der sich als erster für ein paar Tage zurückzieht, Gefahr, von seinen „fleißigeren“ Mitarbeitern überholt zu werden. Oder aber der unbegrenzte Urlaub fällt dem ständigen Aufschieben zum Opfer: „Nichts tun kann ich morgen, heute habe ich etwas zu erledigen.“ Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat einen anderen Grund für die Urlaubsfaulheit gefunden: Seine Studie ergab, dass Menschen während ihrer Arbeit viel häufiger in einen Flow hineingeraten, also sich auf etwas so sehr konzentrieren, dass sie vergessen, wie die Zeit vergeht. Dieser Flow besteht darin, dass man vollkommen in dem aufgeht, was man tut. Man ist intrinsisch motiviert, rein aus der Tätigkeit heraus. Der Mensch idealisiert zwar die Freizeit als den Moment, in dem er das machen kann, was er wirklich will, nach Csikszentmihalyi trifft das aber häufiger auf die Arbeitszeit zu, zumindest gemessen an den Augenblicken von Zufriedenheit. Die freie Urlaubseinteilung könnte den freien Tagen den romantischen Schein von etwas Ersehnenswertem und Kostbarem nehmen. So viel Freizeit vor Augen zu haben führt also im Idealfall zu einer Aufwertung der Arbeitszeit.
Freie Urlaubstage in Verbindung mit freier Zeiteinteilung geben dem/r Einzelnen die Kontrolle über einen Teil seines/ihres Leben zurück – wenn er/sie damit umgehen kann. In der Folge könnte nämlich die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit verwischen, es wäre vielleicht nicht mehr möglich vollkommen abzuschalten, wenn die Erledigung der Arbeit jederzeit im Blick bleiben muss. Für manche könnte es auch bedeuten, dass sie diese Grenze nicht ziehen müssen, da sie ihre Freizeit nicht durch die Arbeit bedroht sehen oder ihre Arbeit so genießen, dass sie sie als erholsam wahrnehmen. Inwieweit man hier Gefahr läuft, Workaholic zu werden, ist eine andere Frage.
Trotz aller Bedenken, Argumente und Gegenargumente kristallisiert sich doch eines heraus: Unbegrenzter Urlaub ist (wenn nicht durch versteckte Klauseln doch begrenzt) ein klein wenig Kontrolle, dass der Arbeitgeber an den Arbeitnehmer abgibt, ein großes Stück Vertrauen, dass er ihm entgegenbringt und ein Fokus, der – bei richtiger Anwendung – zu höherer Leistung führt, indem sich die Wertung der Arbeit von einer aufwand- zu einer ergebnisorientierten verschiebt. Diese Behauptungen und Ergebnisse sind sicherlich von vielerlei Faktoren abhängig und die Handhabung ist in dieser Form nicht für jeden Betrieb anwendbar. Aber die amerikanischen Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven, indem sie zeigen, wie es gehen könnte.
Dass so ein System bei uns in Italien aus gesetzlichen Gründen grundsätzlich nicht umsetzbar ist, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
Quelle: brand eins 08/2012, „Urlaub nach Gusto“